29.03.2021

Sieg vor dem Bundessozialgericht: Senioren-WGen gerettet

Am Freitag, 26.03.2021, fand er endlich statt: der lang ersehnte Termin vor dem Bundessozialgericht (BSG) mit unseren Kollegen Doßler und Dr. Höge – und endete mit einem rechtskräftigen Urteil zugunsten unserer Mandanten, das unsere seit der ersten Instanz vertretenen Rechtsmeinung voll bestätigte.

Bereits seit 2018 begleiten wir mehr als 50 Bewohner von Senioren-Wohngruppen in ganz Bayern und ihre Angehörigen und Betreuer im Streit gegen die AOK Bayern. Grund der Auseinandersetzung war die Weigerung der Krankenkasse, für die Kosten der Leistungen häuslicher Krankenpflege in ambulant betreuten Senioren-Wohngemeinschaften weiterhin aufzukommen.

In den letzten Jahren hat sich eine neue Versorgungsmöglichkeit für pflegebedürftige Senioren in Bayern und ganz Deutschland etabliert: ambulant betreute Senioren-WGs. Maximal 12 Bewohner mieten sich eine Wohnung mit separaten Zimmern und Gemeinschaftsräumen und verwalten sich in einem Selbstbestimmungsgremium selbst. Jeder Bewohner organisiert sich durch Beauftragung eines ambulanten Pflegedienstes die individuell benötigte Pflege, Betreuung und Hauswirtschaftsleistungen. Oftmals schließen sich hier in der Praxis vor allem für die letzten beiden Dienstleistungen die Bewohner zusammen und beauftragen einen externen Dienstleister, um Synergieeffekte zu nutzen. Den Einzug in eine WG als wesentlich persönlichere Pflegeform für Senioren, die keinesfalls in ein Heim ziehen möchten, muss man sich natürlich auch leisten können. Da fallen neben der monatlichen Miete die Kosten für Hauswirtschaft und Betreuung an. Pflegeleistungen nach dem SGB XI und ein Teil der Betreuungsleistungen werden von den Pflegekassen übernommen. Allerdings ist je nach Einstufung der Bewohner in einen der fünf Pflegegrade der Zahlungsbetrag durch die Pflegekasse gedeckelt. Alle darüber hinaus anfallenden Kosten sind Eigenanteile der Bewohner. Kalkuliert sind die Senioren-WGen so, dass die Leistungen häuslicher Krankenpflege wie Medikamentengabe, Blutzuckermessungen oder das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen, die als SGB V Leistungen von den behandelnden Ärzten verordnet werden, durch die Krankenkassen übernommen werden. Unter Berücksichtigung des von der Pflegeversicherung für diese Wohnformen gezahlten Wohngruppenzuschlags (derzeit 214,- EUR monatlich), ist die Senioren-WG auch finanziell eine passende Lösung für viele pflegebedürftige Menschen.

Je nach individuellem Bedarf fallen an Kosten häuslicher Krankenpflege für die Versicherten im Durchschnitt zwischen 300,- und 1.000,- EUR pro Monat an. Wenn diese von der Krankenkasse plötzlich nicht mehr übernommen werden wie es 2018/2019 geschah, sind die Senioren-WGen nur noch den vermögenderen Menschen vorbehalten. Etliche Mandanten teilten uns in den letzten Monaten mit, dass die WG aufgelöst werden muss, wenn die Krankenkasse in ihrer Ansicht durch das BSG bestätigt wird, dass einfachste Leistungen von Behandlungspflege (SGB V) von den ohnehin in der WG anwesenden Betreuern übernommen werden könnten mit der Folge, dass die Kosten von den Bewohnern selbst und nicht von der Krankenkasse getragen werden. Aber soweit muss es zum Glück nicht kommen:

Bereits 2019 hatte das Sozialgericht Landshut zugunsten dreier Mandanten unserer Kanzlei die AOK Bayern verurteilt, die Kosten häuslicher Krankenpflegeleistungen in Senioren-WGen zu übernehmen.

Auch das Landessozialgericht bestätigte mit Urteilen vom 20.08.2019 die erstinstanzlichen Entscheidungen, wenn auch mit teilweise abweichender Begründung. Die hiergegen eingelegte Revision der AOK hatte nunmehr vor dem Bundessozialgericht ebenfalls keinen Erfolg. Die Bundesrichter entschieden, dass ein Anspruch gegen die Krankenkasse auch dann besteht, wenn Versicherte die Versorgungsform einer Wohngemeinschaft wählen und dort ambulante Pflegeleistungen im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung beziehen, wenn die Pflegemaßnahmen qualitativ ordnungsgemäß erbracht werden und nicht bereits ein – dann vorrangiger – Anspruch gegen die Einrichtung besteht. Die Richter werteten die gesetzliche Lage seit 2008 so, dass mehrere Pflegeversicherte Leistungen der häuslichen Pflegehilfe gemeinsam in Anspruch nehmen dürfen und zwar explizit mit dem Ziel, durch das „Poolen“ von Leistungsansprüchen eine wirtschaftlichere Versorgung mit Pflegeleistungen zu ermöglichen und dadurch im Ergebnis die ungedeckten Pflegekosten der Beteiligten geringer zu halten.

Der Ansicht der AOK, dass es sich aufgrund der einzelnen Vertragsgestaltungen bei den WGen eigentlich um eine stationäre Einrichtung, ein „Heim im Baukastensystem“ handelt, mit der Folge, dass ein Anspruch gegen die Krankenkasse nicht besteht, folgte der 3. Senat des BSG nicht. Die Grenze zwischen ambulanter und stationärer Pflegeversorgung verläuft nach dem Gericht zufolge dort, wo Anbieter der Wohngruppe oder ein Dritter den Pflegebedürftigen „Leistungen anbieten oder gewährleistet, die dem im jeweiligen Rahmenvertrag nach § 75 Abs. 1 SGB XI für vollstätionäre Pflege vereinbarten Leistungsumfang weitgehend entsprechen“. Abgrenzungsrelevant sei danach weniger die rechtliche und/oder personelle Gestaltung auf der Anbieterseite als der Umfang der den Pflegebedürftigen zu gewährleistenden Leistungen.

Ein Sieg also auf der ganzen Linie und die Sicherheit, dass unzählige Senioren-Wohngemeinschaften weiterbestehen können.

Praxistipp:

Nichtsdestotrotz gilt es für die Konzeption einer solchen WG etliche Rechtsvorschriften auf Bundes- und Landesebene zu beachten. Es sind Mietverträge, Betreuungsverträge, Hauswirtschaftsverträge, Präsenzkraftverträge sowie Gremiumsvereinbarungen zu gestalten und korrekt abzuschließen, um alle Voraussetzungen zu erfüllen und die möglichen Leistungen der Pflege- und Krankenkasse zu beziehen. Wir planen Mitte des Jahres ein Seminar gerichtet insbesondere an Pflegedienste und Sozialstationen, die sich mit dem Thema Senioren-WG auseinandersetzen oder solche initiieren und betreuen möchten, zu dem wir bereits hiermit herzlich einladen. Interessenten melden sich gerne vorab schon einmal bei uns in der Kanzlei, damit gezielt eine Einladung ergehen kann, sobald der Termin feststeht.