20.09.2022

Paukenschlag aus Erfurt: Arbeitgeber müssen Arbeitszeit kontrollieren

Das Bundesarbeitsgericht hat am 13. September 2022 entschieden, dass Unternehmen die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten systematisch erfassen müssen. Das ergebe sich aus einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs von 2019, sagte Gerichtspräsidentin Inken Gallner. Mit einer solch weitreichenden Entscheidung hatte die Arbeitsrechtswelt nicht gerechnet – vordergründig ging es in dem Rechtsstreit nur darum, wie weit die Mitbestimmungsrechte eines Betriebsrats reichen.

Der Fall

Allein der konkrete Fall beinhaltete eine ehr außergewöhnliche Lage, sehen doch Betriebsräte die Einführung einer elektronischen Zeiterfassung ehr skeptisch, da sie die Kontrollmöglichkeiten des Arbeitgebers erweitert. Doch vergangenen Dienstag befand das BAG über ein genau entgegengesetztes Verfahren: Eine Belegschaftsvertretung kämpft für die Einführung einer digitalen Stechuhr. Der Arbeitgeber ist eine von zwei Unternehmen gemeinsam betriebene vollstationäre Wohneinrichtung im Rahmen der Eingliederungshilfe mit rund 100 Beschäftigten. Die beiden hatten bereits die Lesegeräte für eine solche Vorrichtung angeschafft, die Einführung aber aufgegeben, als Verhandlungen über eine Betriebsvereinbarung scheiterten. Doch der Betriebsrat wünscht sich die Neuerung und erreichte in zwei Instanzen die Einsetzung einer Einigungsstelle. Dort machten die Arbeitgeberinnen jedoch deren Unzuständigkeit geltend: Der Gegenseite fehle das Initiativrecht für die Einführung einer solchen technischen Einrichtung. Woraufhin das Kompromissgremium seine Arbeit aussetzte und der Betriebsrat (abermals) vor Gericht zog, um sich die Kompetenz für seinen Vorstoß bescheinigen zu lassen. Der Betriebsrat argumentierte, auch die Beschäftigten könnten ein Interesse an der Einführung einer elektronischen Zeiterfassung und von „mehr Kontrolle“ haben, gerade wenn es um die genaue Dokumentation von Arbeitszeit und Überstunden gehe. Schließlich gebe es andere schützenswerte Rechte, die den Persönlichkeitsschutz überwiegen könnten. Gefahren in der Praxis wie unbezahlten Überstunden, Verletzung von Ruhepausen oder Kappung von Arbeitszeitguthaben könne nur entgegengewirkt werden, wenn ein objektives System etabliert würde – weshalb Arbeitgeber dies oft verhindern wollten. Die beiden Unternehmen konterten, das Mitbestimmungsrecht bei Einführung technischer Kontrolleinrichtungen nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG sei ein reines Abwehrrecht zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der Mitarbeiter kein Initiativrecht. Während das Arbeitsgericht Minden dem folgte, stellte sich das LAG Hamm auf die Seite des Betriebsrats: Der Gesetzgeber habe in sozialen Angelegenheiten bewusst nicht zwischen Mitbestimmungsrechten mit deren Initiativrecht und solchen unterschieden, bei denen dieses nur beim Arbeitgeber liege. Dem steht aus Sicht der Richter in Hamm nicht entgegen, dass das BAG anno 1989 noch gegenteilig entschieden hatte. Auf das EuGH-Urteil von 2019, wonach Arbeitszeiten durch ein elektronisches System erfasst werden müssten, komme es somit nicht weiter an.

BAG legt Arbeitsschutzgesetz europakonform aus

Doch genau das sah nun der 1. Senat in Erfurt unter Vorsitz von Gerichtspräsidentin Inken Gallner ganz anders. Bei unionsrechtskonformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz sei der Arbeitgeber ohnehin verpflichtet, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen. Damit knüpften die obersten Arbeitsrichter an den Spruch ihrer Luxemburger Kollegen an. Die deutsche Vorschrift lautet in ihrem Kontext: „(1) Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. Er hat die Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und erforderlichenfalls sich ändernden Gegebenheiten anzupassen. Dabei hat er eine Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten anzustreben. (2) Zur Planung und Durchführung der Maßnahmen nach Absatz 1 hat der Arbeitgeber unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten 1. für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen sowie 2. Vorkehrungen zu treffen, dass die Maßnahmen erforderlichenfalls bei allen Tätigkeiten und eingebunden in die betrieblichen Führungsstrukturen beachtet werden und die Beschäftigten ihren Mitwirkungspflichten nachkommen können.“

Bisher war neues Gesetz für nötig erachtet worden

Unter Arbeitsrechtlern war hingegen bisher ausgesprochen umstritten, ob das Luxemburger Urteil direkt Arbeitgeber binde oder nur die Mitgliedstaaten verpflichte, eine entsprechende Gesetzesregelung zu schaffen. Der Koalitionsvertrag der Ampel-Fraktionen beschränkt sich insofern lediglich auf den Passus: „Im Dialog mit den Sozialpartnern prüfen wir, welchen Anpassungsbedarf wir angesichts der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitszeitrecht sehen.“ Ein Gesetzentwurf ist aber noch nicht in Sicht – und aus Erfurter Sicht auch nicht mehr unbedingt nötig.

Prozesstechnisch hat der Betriebsrat damit allerdings verloren. Aufgrund der gesetzlichen Pflicht im Arbeitsschutzgesetz könne er nämlich die Einführung eines Systems der (elektronischen) Arbeitszeiterfassung im Betrieb nicht mithilfe der Einigungsstelle erzwingen, so das BAG. Ein entsprechendes Mitbestimmungsrecht nach § 87 BetrVG bestehe nur, wenn und soweit die betriebliche Angelegenheit nicht schon gesetzlich geregelt ist.

Kurz nach der Entscheidung hat Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) nun Vorschläge für eine Umsetzung dieser Pflicht in Aussicht gestellt. Zunächst müsse sein Ministerium aber den Beschluss und die Begründung dazu auswerten, sagte Heil gegenüber der Presse.

Pflicht zur Arbeitszeiterfassung folgt Unionsrecht

Die BAG-Präsidentin Inken Gallner begründete die Pflicht von Arbeitgebern zur systematischen Erfassung der Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten eben aber mit der Auslegung des deutschen Arbeitsschutzgesetzes nach dem sogenannten Stechuhr-Urteil des EuGH von 2019. Der Beschluss legt die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung in den EU-Mitgliedsstaaten fest und muss in nationales Recht umgesetzt werden. Das ist in Deutschland bislang noch nicht geschehen. Eine Sprecherin des Arbeitsministeriums erklärte dazu, dass das EuGH-Urteil „keinen zeitlichen Rahmen“ für die Umsetzung der Arbeitszeiterfassungspflicht setze. Gespräche mit Gewerkschaften und Arbeitgebern in Form eines „Arbeitszeitgipfels“ hätten noch nicht stattgefunden. Eine BAG-Sprecherin sagte, das Urteil wirke wie ein Gesetz, sei allerdings auf die Maßgabe der Arbeitszeiterfassung beschränkt und nicht so detailliert wie ein mögliches Gesetz. Ein Gesetz könnte auch regeln, wie die Arbeitszeit aufgezeichnet werden solle, wie es weitergehe mit Vertrauensarbeit oder ob es möglicherweise Branchenregelungen geben soll.

Heil betonte mit Blick auf den BAG-Beschluss: „Es ist wichtig, dafür zu sorgen, dass Menschen nicht um ihren Lohn betrogen werden, durch Manipulation bei der Arbeitszeit, aber wir müssen, wenn das Urteil uns Umsetzungsnotwendigkeiten in der Gesetzgebung mitbringt, auch darauf achten, dass die Umsetzung so unbürokratisch wie möglich stattfindet.“ Es gebe in Deutschland bereits Bereiche, in denen die Arbeitszeit registriert werde. „Das muss nicht immer die Stechkarte sein. Das kann auch eine digitale Lösung sein.“ Nun gehe es aber erst mal darum, das Grundsatzurteil zu prüfen und die Frage der Rechtsfolgen zu klären. Erst dann werde er Vorschläge unterbreiten.

Auch der arbeitsmarktpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Pascal Kober, sagte, dass es noch zu früh sei, um die konkreten Auswirkungen des Beschlusses auf die Arbeitszeiterfassung in Deutschland zu bewerten. Mit Verweis auf den Koalitionsvertrag betonte er die nötige Abstimmung mit Gewerkschaften und Arbeitgebern. Die reagierten sehr unterschiedlich auf die Grundsatzentscheidung. Die Arbeitgebervereinigung BDA kritisierte es als „überstürzt und nicht durchdacht“. Das Gericht überdehne mit seiner Entscheidung den Anwendungsbereich des Arbeitsschutzgesetzes deutlich, sagte BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter in einer Mitteilung. „Damit werden Beschäftigte und Unternehmen ohne gesetzliche Konkretisierung überfordert.“ Die Entscheidung dürfe nicht dazu führen, dass von den Beschäftigten gewünschte Systeme der Vertrauensarbeitszeit in Frage gestellt werden.

Positiv reagierte dagegen der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), der betonte, dass die Arbeitszeiterfassung ein Weg sei, um übermäßige Überstunden einzudämmen. „Diese Feststellung ist lange überfällig. Die Arbeitszeiten der Beschäftigten ufern immer mehr aus, die Zahl der geleisteten Überstunden bleibt seit Jahren auf besorgniserregend hohem Niveau“, sagte DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel. Die lange diskutierte Arbeitszeiterfassung sei eine Grundbedingung, damit Ruhe- und Höchstarbeitszeiten eingehalten würden, erklärte Piel. Nach dem EuGH-Urteil habe das Bundesarbeitsgericht für eine Klarstellung in Deutschland gesorgt. DGB-Vorstand Piel forderte die Arbeitgeber auf, jetzt ein System einzuführen, „mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit verlässlich erfasst werden kann“. Komme ein Arbeitgeber trotz Aufforderung dieser Pflicht nicht nach, könnten die Arbeitsschutzbehörden eingeschaltet werden. Ein Ende von flexiblen Arbeitszeiten bewirke die BAG-Entscheidung nicht. „Das Urteil bedeutet mitnichten das Ende von Vertrauensarbeitszeit und Homeoffice – das ist eine Gespensterdebatte“, sagte die Gewerkschafterin.