21.10.2022

„Ist´s Wahnsinn auch, so hat es doch Methode“ (Shakespeare) – Neues vom EuGH zum Urlaub

Der Europäische Gerichtshof hat mit zwei spektakulären Entscheidungen vom 22.09.2022 wieder Chaos (oder Leben – je nach Betrachter) ins Urlaubsrecht gebracht:

Nach der Entscheidung in der Rechtssache C-120/21 (BAG) soll der Anspruch auf erworbenen bezahlten Jahresurlaub nach Ablauf einer Frist von drei Jahren nicht verjähren, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht tatsächlich in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch wahrzunehmen. In den beiden Rechtssachen  C-518/20C-727/20 (BAG) hat der EuGH nunmehr entschieden, dass auch bei Langzeit- , bzw. Dauererkrankten der Urlaub nur verfällt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer rechtzeitig in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch auszuüben, insbesondere durch eine entsprechende Information.

Ausgangslage

Der Anspruch auf Erholungsurlaub verfällt grundsätzlich nach § 7 Abs. 3 S. 1 BUrlG mit Ablauf des Kalenderjahres. Unter bestimmten Voraussetzungen kann er in das folgende Kalenderjahr übertragen werden, ist dann aber bis spätestens 31.03. zu nehmen. Soweit das Gesetz. 2019 hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) die Rechtsprechung des EuGH übernommen, dass der Urlaub nur dann verfallen soll, wenn der Arbeitnehmer zuvor durch den Arbeitgeber über 1.) das Bestehen des Anspruchs und dessen Umfang, 2.) über die rechtzeitige Urlaubnahme und 3.) den Verfall zum Jahresende informiert wurde. Offen war danach, ob erstens der Urlaubsanspruch- wie andere Ansprüche auch – der regelmäßigen und damit dreijährigen Verjährungsfrist unterliegt und zweitens, ob Langzeiterkrankten auch eine solche Mitteilung gemacht werden muss, da das BAG hier bereits eine verlängerte 15monatige Übertragungsfrist angenommen hat. Insbesondere mutet es seltsam an, jemanden dazu aufzufordern, Urlaub zu nehmen, der wegen Erkrankung hierzu gar nicht in der Lage ist.

1. Ohne Information verjährt Urlaub nicht

In der erstgenannten Entscheidung war die Klägerin vom 1.11.1996 bis 31.7.2017 bei der Beklagten beschäftigt. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses verlangte die Klägerin für die von ihr zwischen 2013 und 2017 nicht genommenen 101 Tage bezahlten Jahresurlaubs eine finanzielle Vergütung. Die Beklagte lehnte es ab, den Jahresurlaub abzugelten. Der von der Klägerin am 6.2.2018 erhobene Klage wurde im ersten Rechtszug teilweise stattgegeben. Hinsichtlich der Ansprüche, die sich auf die für die Jahre 2013 bis 2016 nicht genommenen Urlaubstage beziehen, wurde die Klage abgewiesen. Das LAG entschied daraufhin in der 2. Instanz, dass die Klägerin für den im Zeitraum von 2013 bis 2016 nicht genommenen Jahresurlaub Anspruch auf Abgeltung von 76 weiteren Tagen habe. Die Beklagte habe nicht dazu beigetragen, dass die Klägerin ihren Urlaub für diese Jahre zur gebotenen Zeit habe nehmen können, sodass die Ansprüche nicht verjährt seien. Gegen diese Entscheidung wurde Revision eingelegt. Daraufhin hat das BAG das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH die Frage vorgelegt.

Der bezahlte Jahresurlaub sei nach Auffassung des EuGH ein in Art. 31 II EU-GRCharta verankertes Grundrecht. In der EU-GRCharta verankerte Grundrechte dürften nur unter Einhaltung strenger Bedingungen eingeschränkt werden. Diese Einschränkungen müssten gesetzlich vorgesehen sein, den Wesensgehalt des betreffenden Rechts achten sowie unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sein und von der EU anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen tatsächlich entsprechen. Zwar verfolge die Verjährungsvorschriften ein legitimes Ziel, nämlich die Gewährleistung der Rechtssicherheit. Dieses Interesse sei indes dann nicht mehr berechtigt, wenn der Arbeitgeber sich dadurch, dass er davon abgesehen habe, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub tatsächlich wahrzunehmen, selbst in eine Situation gebracht habe, in der er mit solchen Anträgen konfrontiert werde, und aus der er zulasten des Arbeitnehmers Nutzen ziehen könnte. Vorliegend sei es Sache des Arbeitgebers, gegen späte Anträge wegen nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs dadurch Vorkehrungen zu treffen, dass er seinen Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten gegenüber dem Arbeitnehmer nachkomme, womit die Rechtssicherheit gewährleistet werde, ohne dass das in der EU-GRCharta verankerte Grundrecht eingeschränkt würde.

2. Auch Erkrankte müssen zur Urlaubnahme aufgefordert werden

Das BAG legte dem EuGH weitere zwei Vorabentscheidungsersuchen vor. Im ersten Vorabentscheidungsersuchen ist in einem Rechtsstreit zwischen XP und Fraport streitig, ob der bei Fraport beschäftigte Frachtfahrer XP, der infolge einer schweren Behinderung seit dem 1.12.2014 eine Rente wegen voller, aber nicht dauerhafter Erwerbsminderung (zuletzt bis zum 31.08.2022 verlängert) bezieht, Anspruch auf 34 Tage bezahlten Jahresurlaub aus dem Jahr 2014 zustehen. Diese Urlaubstage hat XP aufgrund seines Gesundheitszustands nicht in Anspruch nehmen können. Fraport war seiner Obliegenheit nicht nachgekommen, an der Gewährung und Inanspruchnahme des Jahresurlaubes mitzuwirken.

Im zweiten Vorabentscheidungsersuchen macht die Arbeitnehmerin AR, die beim St. Vincenz-Krankenhaus angestellt und seit ihrer Erkrankung im Jahr 2017 arbeitsunfähig ist, die Feststellung geltend, dass ihr 14 Tage bezahlter Jahresurlaub aus dem Jahr 2017 zustehen. In beiden Fällen berufen sich die Arbeitgeber auf den Verfall des Urlaubs nach Ablauf von 15 Monaten ab Ende des jeweiligen Urlaubsjahres.

Der EuGH hat entschieden, dass ein Verfall des Urlaubs in diesem Fall Unionsrecht widersprechen würde. Zwar seien Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub grundsätzlich anhand der auf Grundlage des Arbeitsvertrags tatsächlich geleisteten Arbeitszeiträume zu berechnen. Hiervon sei aber eine Ausnahme bei arbeitsunfähigen Arbeitnehmern zu machen. Das Eintreten einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit sei grundsätzlich nicht vorhersehbar und vom Willen des Arbeitnehmers unabhängig. Es könne allerdings „besondere Umstände“ geben, die eine Ausnahme von der Regel, dass Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub nicht erlöschen können, rechtfertigen, um die negativen Folgen einer unbegrenzten Ansammlung von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub zu vermeiden. Daher stehe Unionsrecht einer nationalen Rechtsvorschrift nicht entgegen, die die Möglichkeit, Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub anzusammeln, dadurch einschränke, dass sie einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten vorsehe, nach dessen Ablauf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erlösche. Eine solche Ausnahme sei aber dann nicht gerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber seiner Obliegenheit nicht nachgekommen sei, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, seinen Urlaub tatsächlich zu nehmen. In diesem Fall müsse der Arbeitgeber die sich daraus ergebenen Folgen tragen. Ein anderes Ergebnis mache auch der Schutz der Interessen des Arbeitgebers nicht erforderlich, da nur der Urlaubsanspruch des Bezugszeitraumes betroffen sei, in dem die volle Erwerbsminderung oder Krankheit eingetreten sei. Es bestehe daher nicht die Gefahr einer unbeschränkten Ansammlung von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub.

Einordnung

Wie schon Polonius, der ein System hinter Hamlets Verwirrtheit zu erkennen glaubte, erscheinen uns diese Entscheidungen des EuGH in ihrer rechtlichen Überhöhung des Urlaubsanspruchs irgendwie konsequent. Überhöhung, weil es sachlich kein Argument gibt, den Urlaub gegenüber z.B. Lohnansprüchen, die normal verjähren können, zu privilegieren. Der EuGH wird in seinem missionarischen Eifer aber auch inkonsequent: denn nach ständiger Rechtsprechung des EuGH wird mit dem Anspruch auf Jahresurlaub nämlich der Zweck verfolgt, dass sich der Arbeitnehmer durch bezahlten Urlaub tatsächlich zu erholen. Jede Maßnahme also, insbesondere der Abkauf von Urlaubsansprüchen, die darauf abzielt, den Erholungszweck zu verhindern, ist daher rechtswidrig. Dann muss sich der EuGH aber fragen lassen, wie sich dieser Grundsatz damit in Einklang bringen lassen soll, dass bei Erkrankten Urlaubsansprüche erhalten bleiben sollen, die voraussichtlich nie mehr der Erholung dienen können oder dass hier Anreize für Arbeitnehmer geschaffen werden, Urlaub jahrelang nicht zu nehmen, um sich einen späteren Ausstieg vergolden zu lassen. Letztlich forciert der EuGH damit die eigentlich unerwünschte Kapitalisierung des Urlaubsanspruchs.

Praxistipp

Es bleibt nichts anderes übrig: einmal im Jahr müssen die Arbeitnehmer und zwar alle einen „Urlaubskontoauszug“ erhalten: 1. offener Urlaub, 2. die Aufforderung, diesen zu nehmen und 3. der Hinweis, dass der Urlaub sonst verfällt. Das kann auf einer Lohnabrechnung geschehen, muss aber individualisiert werden. Wichtig auch: der Zugang muss bewiesen werden. Bei Langzeiterkrankten, die keine Lohnabrechnung erhalten, sollte der Hinweis schriftlich erfolgen. Und „Altfälle“? Wer es richtig machen will, zählt ALLE Urlaubsansprüche der Vergangenheit, die vermeintlich verfallen sind, zusammen und führt diese einmalig in einem Hinweis auf, mit dem Hinweis, dass diese spätestens am 31.03. verfallen werden. Dann sollte der Urlaub aber auch genommen werden können. Nichts tun, kann gut gehen, muss es aber nicht. Gerne helfen wir Ihnen weiter.