20.12.2022

BAG: Berücksichtigung der Rentennähe bei der Sozialauswahl

Bei einer betriebsbedingten Kündigung hat der Arbeitgeber gemäß § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG zwischen den in Frage kommenden Arbeitnehmern eine Sozialauswahl vorzunehmen, um die Kündigung so sozialverträglich wie möglich auszusprechen. Nur den oder die sozial am wenigsten schutzwürdigen Arbeitnehmer sollen von einer Kündigung getroffen werden.

Als zwingende Kriterien für die Ermittlung eines Rankings der sozialen Schutzwürdigkeit zwischen miteinander vergleichbaren Arbeitnehmern nennt das Gesetz die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und die Schwerbehinderung. Darüber hinaus darf der Arbeitgeber jedoch noch weitere Aspekte berücksichtigen.

Hinsichtlich der Rentennähe in der Bewertung der Sozialauswahl hatte das BAG am 08.12.2022 (Az. 6 AZR 31/22) folgenden Fall zu entscheiden:

Sachverhalt:

Die 1957 geborene Klägerin war seit 1972 bei der Beklagten beschäftigt. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Beklagten schloss der zum Insolvenzverwalter bestellte Beklagte mit dem Betriebsrat einen ersten Interessenausgleich mit Namensliste, der die Kündigung von 61 der 396 beschäftigten Arbeitnehmer vorsah. Als zu kündigende Arbeitnehmerin war die Klägerin in der Namensliste genannt. Mit Schreiben vom 27.03.2020 kündigte der beklagte Insolvenzverwalter das Arbeitsverhältnis zum 30.06.2020. Die Klägerin hält die Kündigung für unwirksam. Der beklagte Insolvenzverwalter ist der gegenteiligen Ansicht. Die Klägerin sei in ihrer Vergleichsgruppe – auch in Bezug auf den von ihr benannten, 1986 geborenen und seit 2012 beschäftigten Kollegen – sozial am wenigsten schutzwürdig. Sie habe als einzige die Möglichkeit, ab 01.12.2020 und damit zeitnah im Anschluss an das beendete Arbeitsverhältnis eine Altersrente für besonders langjährig Beschäftigte (§§ 38, 236b SGB VI) zu beziehen. Aus diesem Grund falle sie hinter alle anderen vergleichbaren Arbeitnehmer zurück.

Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung des beklagten Insolvenzverwalters zurückgewiesen.

Entscheidung:

Die Revision des beklagten Insolvenzverwalters hatte vor Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Das BAG befand die Kündigung wie die Vorinstanzen im Ergebnis für unwirksam.

Allerdings durften die Betriebsparteien die Rentennähe der Klägerin bei der Sozialauswahl bezogen auf das Kriterium „Lebensalter“ berücksichtigen. Sinn und Zweck der sozialen Auswahl ist es, unter Berücksichtigung der im Gesetz genannten Auswahlkriterien gegenüber demjenigen Arbeitnehmer eine Kündigung zu erklären, der sozial am wenigsten schutzbedürftig ist. Das Auswahlkriterium „Lebensalter“ ist dabei ambivalent. Zwar nimmt die soziale Schutzbedürftigkeit zunächst mit steigendem Lebensalter zu, weil lebensältere Arbeitnehmer nach wie vor typischerweise schlechtere Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Sie fällt aber wieder ab, wenn der Arbeitnehmer entweder spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses über ein Ersatzeinkommen in Form einer abschlags-freien Rente wegen Alters – mit Ausnahme der Altersrente für schwerbehinderte Menschen (§§ 37, 236a SGB VI) – verfügen kann oder über ein solches bereits verfügt, weil er eine abschlagsfreie Rente wegen Alters bezieht.

Diese Umstände können der Arbeitgeber bzw. die Betriebsparteien bei dem Auswahlkriterium „Lebensalter“ zum Nachteil des Arbeitnehmers berücksichtigen. Insoweit billigen ihnen § 1 III KSchG, § 125 I 1 Nr. 2 InsO einen Wertungsspielraum zu.

Die streitbefangene Kündigung vom 27.03.2020 war im Ergebnis dennoch unwirksam, weil die Auswahl der Klägerin im vorliegenden Fall allein wegen ihrer Rentennähe unter Außerachtlassung der anderen Auswahlkriterien „Betriebszugehörigkeit“ und „Unterhaltspflichten“ erfolgte und deswegen grob fehlerhaft war.

Praxistipp:

Es empfiehlt sich für Arbeitgeber zur Vorbereitung betriebsbedingter Kündigungen eine Liste aller Arbeitnehmer zu erstellen, in welche die oben genannten zwingenden Kriterien zur Sozialauswahl jeweils individuell ausgefüllt sind. Hierbei sollte eine etwaige Rentennähe von Arbeitnehmern mitverzeichnet werden. Ignoriert der Arbeitgeber eine kurzfristige Rentenmöglichkeit seiner Arbeitnehmer, kann die Sozialauswahl so grob fehlerhaft sein, dass selbst eine Namensliste in einem Interessenausgleich die Vermutung der korrekten Sozialauswahl widerlegt.