23.07.2020

Warum man rechtzeitig zum Arzt gehen sollte

Vielen in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten ist nicht bewusst, dass ein verspäteter Arztbesuch erhebliche Nachteile für den Krankengeldanspruch haben kann. Eine Entscheidung des Sozialgerichts München vom 17.06.2020 gibt Anlass, das risikoträchtige Minenfeld der rechtzeitigen Folgebescheinigung näher zu beleuchten. Im heutigen Beitrag wollen wir einmal den Anspruch auf Krankengeld näher betrachten. Eine Übersicht über arbeitsrechtliche Aspekte folgt demnächst. Zu Einzelfragen siehe unsere Blogbeiträge zuletzt am 07.05.2020 und am 17.07.2020.

Urteil des SG München vom 17.06.2020

Ar­beit­neh­mer steht Kran­ken­geld auch dann zu, wenn er das At­test für die fort­dau­ern­de Krank­schrei­bung bei sei­ner Kran­ken­kas­se erst ver­spä­tet vor­legt, weil der un­ter­su­chen­de Arzt es ihm erst nach­träg­lich zu­ge­lei­tet hatte. Denn die un­zu­rei­chen­de Bü­ro­or­ga­ni­sa­ti­on des Arz­tes liege in der Ri­si­ko­s­phä­re der Kran­ken­kas­se, ent­schied das So­zi­al­ge­richt Mün­chen mit Urteil vom 17.06.2020 (S 7 KR 1719/19).

Der Arbeitnehmer hatte sich an einem Montag um eine erneute Krankschreibung bemüht. Der Arzt hatte diese aber im Anschluss an die Untersuchung wegen einer fehlenden Schreibkraft nicht noch am gleichen Tag ausgestellt, sondern sie dem Patienten erst am folgenden Samstag übermittelt. Obwohl der Arbeitnehmer die Bescheinigung noch am gleichen Tag auf den Weg gebracht hatte, wollte die Krankenkasse ihm das Krankengeld für die Zeit zwischen der Untersuchung und dem Erhalt der Bescheinigung verweigern. Sie argumentierte, der Betroffene hätte sich auch per Telefon oder Fax weiterhin krankmelden können.

Hintergrund:

Nach § 46 Abs. 1 SGB V entsteht der Anspruch auf Krankengeld bei Arbeitsunfähigkeit von dem Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit an. Der Anspruch auf Krankengeld bleibt jeweils bis zu dem Tag bestehen, an dem die weitere Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit ärztlich festgestellt wird, wenn diese ärztliche Feststellung spätestens am nächsten Werktag nach dem zuletzt bescheinigten Ende der Arbeitsunfähigkeit erfolgt; Samstage gelten insoweit nicht als Werktage.

Zwingende Voraussetzung ist also die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit, „krank sein“ allein genügt nicht. In den sogenannten „Krankschreibungen“ gibt der Arzt den Beginn und das voraussichtliche Ende der Arbeitsunfähigkeit an.

Dauert die Arbeitsunfähigkeit länger, als bisher angegeben, so wird eine Folgebescheinigung ausgestellt. Nach dem Gesetz, das hier etwas verklausuliert formuliert, gilt eine strenge Frist, auch wenn das Gesetz seit 2015 bereits deutlich entschärft wurde: die Verlängerung ist nur dann beachtlich, wenn diese Folgebescheinigung spätestens am nächsten Werktag nach dem zuletzt bescheinigten Ende der Arbeitsunfähigkeit erfolgt.

Beispiel: A ist seit dem 03.04.2020 arbeitsunfähig krank geschrieben und bezieht Krankengeld, die letzte Bescheinigung endete am Freitag, den 17.07.2020. A geht am

a) 17.07.2020

b) Montag, den 20.07.2020

c) Dienstag, den 21.07.2020, weil er am Montag kurzfristig keinen Termin mehr bekommen hat

zum Arzt, der ihn weiter bis 31.07.2020 krank schreibt.

Die Variante a) ist unkompliziert: er wurde rechtzeitig weiter krank geschrieben und daher weiter bis zum 31.07.2020 Anspruch auf Krankengeld.

Auch die Variante b) ist (noch) unkompliziert: da der Montag nach dem Gesetz der „nächste Werktag nach dem zuletzt bescheinigten Ende der Arbeitsunfähigkeit“ ist, wäre auch die Krankschreibung an diesem Tag noch ausreichend und erhält den Anspruch auf Krankengeld. Allerdings können hier schon Probleme auftreten, wie der Fall, den das SG München zu entscheiden hatte, eindrücklich zeigt: dort war der Kläger zwar rechtzeitig beim Arzt, dieser datierte die Bescheinigung jedoch auf den nächsten Tag, als er das Attest tatsächlich ausstellen konnte. Formal gesehen erfolgte damit die ärztliche Feststellung um einen Tag zu spät, damit hätte die Krankenkasse eigentlich Recht.

Noch deutlicher ist die Variante c): A war zu spät beim Arzt, so dass auch die Feststellung der weiteren Arbeitsunfähigkeit nach dem Gesetz zu spät erfolgte. Rechtsfolge in dem Fall: der Anspruch auf Krankengeld endete am 17.07.2020. Unter bestimmten Voraussetzungen kann A sogar seinen Versicherungsschutz verlieren!

Bei schweren und langwierigen Erkrankungen ist dies eine äußerst brutale Konsequenz, da dann eigentlich nur noch Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe oder auf Arbeitslosengeld II besteht.

In der Rechtsprechung wurden aber Konstellationen herausgearbeitet, in denen eine solche Konsequenz unbillig, also ungerecht wäre. Diese Rechtsprechung hat auch dazu geführt, dass 2015 das Gesetz entschärft wurde, indem kleinste Verspätungen nicht mehr zum Entfall des Krankengeldanspruchs führen. Die Rechtsprechung, die auch für das geänderte Gesetz weiter Bestand hat, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wenn der Versicherte

  1. alles in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare getan hat, um seine Ansprüche zu wahren, indem er rechtzeitig einen zur Diagnostik und Behandlung befugten Arzt persönlich aufgesucht und ihm seine Beschwerden geschildert hat,
  2. an der Wahrung der Krankengeldansprüche durch eine (auch nichtmedizinische) Fehlentscheidung des Vertragsarztes gehindert wurde (zB eine irrtümlich nicht erstellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung), und
  3. – zusätzlich – seine Rechte bei der Krankenkasse unverzüglich nach Erlangung der Kenntnis von dem Fehler geltend macht

verliert er seinen Anspruch auf Krankengeld NICHT.

Einen Folgetermin beim Arzt quasi „auf den letzten Drücker“ zu vereinbaren, diesen dann aber so kurzfristig nicht mehr rechtzeitig zu bekommen, dürfte in aller Regel zu Lasten des Versicherten ausgelegt werden. Wenn der behandelnde Arzt zB in der Woche, in der die bisherige Bescheinigung endet, seine Praxis geschlossen hat, sind Versicherte verpflichtet, einen anderen Arzt aufzusuchen. Nicht „verschuldet“ ist eine verspätete Feststellung, wenn der aufgesuchte Arzt die begehrte Bescheinigung zu Unrecht nicht oder verspätet ausstellt, siehe den Fall des SG München, also der „Fehler“ beim Arzt zu finden ist.

Fazit:

Es kann Menschen, die länger erkrankt sind nur dringend empfohlen werden, sich rechtzeitig um Folgetermine beim Arzt zu kümmern, weil die Folgen eines verspäteten Besuch erheblich sein können.