LSG München entscheidet pro Senioren-WG
Kostenstreit mit Krankenkasse: Senioren-WGs vor dem Aus?
20.08.2019 Von Sebastian Schlenker, dpa
2600 Menschen in Bayern leben in Senioren-WGs. Eine Krankenkasse möchte einen Teil der Pflegekosten von Bewohnern nicht mehr übernehmen. Der Rechtsstreit könnte bis vor dem Bundessozialgericht landen.
München/Langquaid (dpa/lby) – Kurt Friedrich sorgt sich um seine Mutter: Sie ist 80 Jahre alt und lebt in einer Wohngemeinschaft mit anderen älteren Menschen im niederbayerischen Langquaid. Doch der WG droht womöglich das Aus. Die betagte Dame ist pflegebedürftig. Mehrmals täglich braucht sie eine Insulinspritze, jemand muss ihren Blutdruck messen. Dafür fallen Kosten an. Kosten, die die Krankenkasse nicht mehr übernehmen will. Aber nur in der WG habe seine Mutter eine wirklich hohe Lebensqualität, sagt Friedrich.
Ende 2018 teilte ihm die AOK Bayern mit, dass sie die Kosten für die sogenannte ambulante medizinische Behandlungspflege seiner Mutter nicht mehr erstattet. Für Friedrich bedeutet das: 900 Euro Mehrkosten im Monat. «Wie soll ich das dauerhaft leisten?», fragt er. Von der Übernahme der Kosten hängt das WG-Leben seiner Mutter ab. Friedrich klagte – und bekam Recht.
Die AOK legte gegen das Urteil Berufung ein. Das Landessozialgericht (LSG) in München stärkte am Dienstag den Bewohnern von Senioren-WGs den Rücken. Die Richter folgten in drei Fällen wie auch die Vorinstanz der Argumentation der AOK Bayern nicht und verklagte die Kasse zur Zahlung der Kosten.
Zuvor hatten sich bereits rund 150 ähnliche Fälle an Gerichten in Bayern gehäuft, wie Dunja Barkow-von Creytz, Sprecherin am LSG München mitteilte. Auch Fälle einer weiteren Krankenkasse seien ihr bereits bekannt. Die Urteile fielen dabei unterschiedlich aus – Geld floss monatelang trotzdem keines mehr.
Begründet hatte die AOK Bayern ihre Entscheidung mit Urteilen des Bundessozialgerichts zu Einrichtungen der Hilfe für behinderte Menschen. Die Kasse vertritt die Meinung, dass Betreuer ohne medizinische Ausbildung den Bewohnern in einer WG etwa Medikamente geben oder den Blutzucker messen können.
Dies sahen die Richter anders und wiesen die Berufung im Fall von Kurt Friedrichs Mutter und dem einer 87-Jährigen aus Pfarrkirchen und einer 84 Jahre alten WG-Bewohnerin aus Grafenau zurück. Sie ließen in allen drei Fällen eine Revision zum Bundessozialgericht (BSG) zu.
Anwältin Christiane Höge von der Kanzlei Leschnig & Coll. in Würzburg vertrat die Kläger in allen drei Fällen. Sie begrüße das Urteil, sagte sie nach der Verhandlung. Dies bringe Klarheit in der Kostenfrage. Zudem sei es positiv, dass die Richter eine Revision in allen drei Fällen zugelassen hätten. Dies biete die Möglichkeit, die strittige Frage in vielfältiger Weise zu prüfen und so grundlegend zu mehr Rechtssicherheit für Senioren-WGs zu sorgen.
Hätten die Richter anders entschieden, wäre die Senioren-WG in ihrer jetzigen Form gescheitert, sagte Höge. Würden die Kosten nicht mehr übernommen, seien diese für viele Angehörige zu hoch und Senioren-WGs nur noch für Vermögende finanzierbar. Nun bleibe abzuwarten, ob es zu einer Verhandlung am BSG kommt und ob die Richter dort die Frage gleich bewerten wie ihre bayerischen Kollegen.
Auch bei Kurt Friedrich sorgt das Urteil zum Teil für Erleichterung. «Nun haben wir ein Jahr Ruhe», sagte er. «Doch eine Unsicherheit bleibt.» Er wolle, wenn nötig, die Frage bis am BSG klären.
Die Entscheidung darüber, ob es eine Revision am höchsten deutschen Sozialgericht geben wird, liegt bei der AOK Bayern. Eine Sprecherin der Kasse teilte mit, das Urteil zu prüfen und dann über das weitere Vorgehen zu entscheiden. Die Vertreterin der AOK hatte vor Gericht jedoch zu erkennen gegeben, dass die Krankenkasse eine bundesweit einheitliche Rechtssprechung anstrebe. Unabhängig von der Streitfrage hatte die AOK bereits zuvor angekündigt, die strittigen Kosten vorerst weiter zu übernehmen.
Konkrete Auswirkungen hatte die Entscheidung der AOK dennoch bereits. So habe der Pflegedienst der Senioren-WG in Grafenau den Vertrag zum Jahresende gekündigt, da er die finanzielle Unsicherheit fürchte, sagte Anwältin Höge vor Gericht.
Eduard Wall sieht das ähnlich. Der Geschäftsführer eines Pflegedienstes in Aidenbach (Landkreis Passau) betreut vier Senioren-WGs. «Dieses Urteil ist eine Verlängerung, aber die Unsicherheit bleibt», sagte Wall. Sollte das BSG in Zukunft zulasten der Bewohner von Senioren-WGs entscheiden, sieht er keine Zukunft für Senioren-WGs.
Auch bei Claudia Spiegel vom Sozialverband VdK Bayern sorgt das Verhalten der Krankenkasse für Unverständnis. Es könne nicht sein, dass es vom Wohnort eines Menschen abhängt, ob die Kosten von der Krankenkasse übernommen werden oder nicht. Sie sieht eine unklare gesetzliche Lage für Senioren-WGs und fordert vom Bundesgesetzgeber, die strittigen Kosten komplett der Krankenkasse zuzuweisen.
Bislang ist für manche Leistungen die Pflegekasse zuständig, für andere die Krankenkasse. Mit dem Unterschied, dass die Krankenkasse Kosten in der Regel ganz erstattet, die Pflegekasse oft nur pauschal. Spiegel sieht deshalb nicht nur in der jetzigen Entscheidung der AOK die Motivation, Kosten zu sparen, sondern sie fürchtet «dass die Krankenkassen versuchen, die ambulanten Pflegekosten in Senioren-WGs zunehmend der Pflegeversicherung zuzuordnen». Das laufe auch dem Ziel des Gesundheitsministeriums zur Stärkung von Senioren-WGs zuwider.
Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU) teilte mit, durch das Urteil sei deutlich geworden, «dass die vom Bund vorgegebenen Strukturen zwischen Krankenversicherung und Pflegeversicherung nicht mehr zu unserer vielfältigen Pflegelandschaft passen.» Sie fordere eine Weiterentwicklung der Pflegeversicherung auf Bundesebene. Es müsse künftig der individuelle Bedarf des Pflegebedürftigen im Vordergrund stehen – und nicht die Frage, in welcher Wohnform er lebt.
363 Senioren-WGs mit rund 2600 Bewohnern gab es Ende 2018 in Bayern. In einer ambulanten Wohngemeinschaft dürfen laut Gesetz nicht mehr als zwölf Menschen leben. Sie organisieren sich über ein Gremium der Selbstbestimmung, in dem sie Entscheidungen abstimmen. Die Wahl des Pflege- oder Betreuungsdienstes muss frei sein, er darf sich nicht in den gleichen Räumen wie die WG befinden. Auch baulich muss eine WG etwa von stationären Pflegeeinrichtungen getrennt sein.